In dieser frühen installativen Arbeit von 1979 bringt Christoph Rütimann Fotografie, Text und Objekt zusammen und geht bewusst mit der Ästhetik des Materials um – so auch 1987 in einer Installation im Raum für aktuelle Schweizer Kunst Luzern. Dort reiht er acht Bilderrahmen aneinander. Die beiden äusseren enthalten lediglich weisses Papier. In den übrigen sechs Rahmen ist je ein Wort von C’era una volta una cosa bellissima zu lesen. Der Satz beginnt wie im Märchen mit «Es war einmal» und fährt fort mit «eine wunderschöne Sache». Im Glas der Rahmen spiegeln sich zwei geschwungene Linien, die auf die gegenüberliegende Wand gemalt sind und als geschlossene Augenlider gesehen werden – erst recht, wenn der Türrahmen als Nase dazu gedacht wird. Dieses Gesicht verinnerlicht die «wunderschöne Sache», von der nicht verraten wird, worum es sich handelt. Im angrenzenden kleineren Raum wird die Erinnerung unter umgekehrten Vorzeichen wieder aufgenommen: «non me ne ricordo» (Ich erinnere mich nicht daran) ist auf die Wand geschrieben. Der lesende Betrachter hat eine blattvergoldete Sockelleiste im Rücken, die seiner Aufmerksamkeit zu entgehen droht. Sie weist das, woran es keine Erinnerung gibt, als etwas besonders Wertvolles aus, das es sorgsam zu bewahren gilt. Rütimann thematisiert Erinnern und Vergessen und verweist dabei auf etwas Abwesendes, das beim Betrachter neue Bilder hervorruft.
LAW 1988 WC-Deckel und -Brille (Bakelit), Schrift (schwarze Dispersion) Masse variabel
denk mal so 1990 Galerie Varisella, Frankfurt Siebdruck auf Wand Masse variabel
C’era una volta una cosa bellissima 1987 Raum für aktuelle Schweizer Kunst, Luzern C-Print gerahmt, Wandmalerei, vergoldete Sockelleiste Masse variabel
  Wortarbeiten
brau kunst meister werk lager gang hell dunkel treppen haus 2001 Verwaltungsgebäude Brauerei Schützengarten St.Gallen Schablonenschrift (Dispersion) auf Wand Masse variabel Besitz: Brauerei Schützengarten St.Gallen
IBielefelder Wortfelder (sitz bank gut haben denk mal so oder mode schau platz angst art gang unter halt zeit lauf geist los wort feld kraft strom) 2003 Jahnplatz, Bielefeld Baugerüst, Schrift auf synthetischem Gewebe Sechseck-Grundriss 800 x 460 x 1100 cm
Worttapete Hamburg (passe port part tout unter sich gang art) 2004 Brooksbrücke zum Zollfreilager, Hamburg / Speicherstadt Typecut auf Kunststoffplane Masse variabel
OVIVIAMOMAIVIVO 1979 Asphalt, Aluminium, vergoldete Messingplatte, 6 S/W-Fotografien Objekt 32 x 52 x 21 cm, Fotografien gesamt 80 x 720 cm Besitz: Kanton Luzern, Depositum im Kunstmuseum Luzern
OVIVIAMOMAIVIVO
In einer Arbeit von 1988 verbindet der Künstler den Bezug zu Duchamp mit dem Palindrom. LAW steht auf die Wand geschrieben, daneben hängt ein WC-Deckel samt Brille. Auf dieser ist ein Firmenzeichen eingestanzt, ein kleiner WAL mit Fontäne. Allerdings steht der Wal auf dem Kopf, so dass sich seine Fontäne in Richtung Boden ergiesst. Rütimann nimmt mit dieser Arbeit mehrfach Bezug auf Marcel Duchamps Ready-made Fontäne von 1917, das umgekehrte Pissoir.
In Univers-Schrift waren 1990 drei Einsilber auf die Wand der Galerie Varisella in Frankfurt gesetzt: denk mal so. In regelmässigen Abständen kehrten sie wieder, überzogen die Wand wie ein Tapetenmuster. Der Leser hatte die Wahl zwischen verschiedenen Lesarten: horizontal, vertikal, diagonal und gegen den Strich konnte er sich im Wortgitter bewegen. Auf ein sich räusperndes «so, so, so» folgte ein aufforderndes «denk mal», das gleich durch ein befehlerisches «denk so» verstärkt wurde, um in ein versöhnliches «mal so, mal so» zu münden. Subtil verlagerte sich die Bedeutung. Was soeben noch behauptet wurde, wird im nächsten Moment in Frage gestellt. Dieses Hin- und Hergleiten zwischen Bedeutungsebenen ist bezeichnend für die Worttapeten von Christoph Rütimann. Sie beruhen auf einem Wortspiel, regen dazu an, Wortkombinationen zu testen und Bedeutungen freizulegen. Die Worttapeten werden als Hintergrund von Ausstellungen aufgezogen und stehen in Bezug zu anderen Werken, zu einem Ort oder einer bestimmten Thematik. Die titelgebenden Worte viel leicht schwer mut überzogen 1994 drei Stellwände im Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen. Mit «Schwermut / Leichtmut» zielte Rütimann auf die Gemütslage. Doch nicht nur die Emotionen wurden angesprochen, auch die Ratio kam nicht zu kurz. Der Künstler führte in den Bereich des Mess- und Wägbaren hinein, den er mit seinen Waagenarbeiten untersucht. Anstelle von Waagen lagerten Papierstapel vor den Worttapeten. Mit «viel leicht schwer» wurde das Verhältnis von Papierbogen zu Papierstapel angesprochen. Papier war auch einer weiteren Worttapete vorgelagert. Im Papierlager der Neuen Zürcher Zeitung setzte Rütimann seine Wortreihen auf eine 500 Quadratmeter grosse Rückwand. Davor türmten sich die tonnenschweren Papierballen in dezenter Verpackung – Materialvorrat für drei Wochen Lesestoff. Sie verstellten die Sicht auf die Worttapete und gaben sie wieder frei, wenn sie abgetragen und weggekarrt wurden. Dann las man Begriffe, mit denen Rütimann das Druckwerk und das Medienunternehmen umkreiste: «wort wahl schlag zeilen zeit druck zeilen mass». Papier kommt nicht vor, dafür der Rohstoff mit «baum schlag» oder der Standort des Betrachters mit «lager raum».
Worttapeten
Mit Worttapeten kleidet Rütimann nicht nur Innenräume aus, sondern zieht sie auch im Aussenraum auf, so in Bielefeld und Hamburg. Auf dem Bielefelder Jahnplatz, einem trostlosen Stadtzentrum aus der Nachkriegszeit, umhüllte er 2003 die monumentale Kitschuhr mit der 11 Meter hohen Arbeit Bielefelder Wortfelder und lenkte so die Aufmerksamkeit von der Zeit auf den Ort. Dazu dienten Begriffsreihen wie «mode schau platz angst» oder «zeit geist lauf los». In Hamburg spannte der Künstler 2004 eine Kunststoffplane über die Unterseite des Dachs der Zollstation. Die Fussgänger wurden auf ihre Gangart unter der Kunst hindurch aufmerksam gemacht mit «gang art unter sicht». Über der Fahrbahn reihten sich die Worte «passe port part tout». Sie drehten sich um den Standort am Hafen, ums Weggehen und Überschreiten der Grenze mit Reisepass. Dieselben Worte hatte Rütimann bereits 1993 in Rennes und 1996 in Luzern für Worttapeten verwendet.
viel leicht schwer mut 1994 Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen Siebdruck auf Stellwänden Masse variabel
Worttapete NZZ (schlag baum zeilen mass feld blick spiel plan lager raum wort wahl buch druck zeit fluss) 1998 Papierlager und Foyer der NZZ, Schlieren Installation mit Worttapete, Typecut 544 Wörter, 2 Videokameras, 2 Monitore 850 x 5600 cm
mal grund vor wand 2002 Aargauer Kunsthaus Aarau Schablonenschrift (Dispersion) auf Wand, 2 Glasscheiben au fBilderschiene Masse variabel
© 2013 Christoph Rütimann
Christoph Rütimann
© 2013 Christoph Rütimann
In Metalllettern steht OVIVIAMOMAIVIVO auf dem tiefschwarzen Grund geschrieben. Das mittlere O wird von einer vergoldeten Messingplatte durchschnitten, die senkrecht aus der mit Asphalt ausgegossenen Aluminiumwanne ragt. Die Buchstabenfolge lässt sich im Schwarz oder in der Spiegelung im Gold verfolgen. Sie ist ein Palindrom, das heisst, sie ergibt vorwärts wie rückwärts gelesen denselben Sinn. Je nach Betonung verkehrt sich der Ausruf «O, wir leben. Ich lebe nie!» in sein Gegenteil: «Oder leben wir je? Ich lebe.» Auf die Behauptung folgen Zweifel, die um Leben und Nicht-Leben kreisen. Das Objekt erinnert in seiner perfekten Gestaltung an eine Grabplatte. Den Hintergrund bildet ein Streifen von sechs Fotografien, die mit hellen Lichtern wie ein Sternenhimmel erscheinen und dem Werk eine Wendung ins Erhabene geben. Dabei sind die Fotografien technischer Natur: Bei den strukturierten Lichtpunkten handelt es sich um die minimale Information von Sendesignalen auf einem Bildschirm.

- Arbeiten Uebersicht